Ein Bestatter zum Verlieben

Leseprobe

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August 2017

Edward Adams liebte seinen Beruf. Für ihn war es nicht nur ein Job, der erledigt werden musste, sondern eine Leidenschaft. Eine Leidenschaft, nicht für jeden geschaffen – erst recht nicht im eigenen Hause.

Verschlafen stieg Edward die Stufen von seiner Zwei-Zimmer-Wohnung ins Erdgeschoss hinab. Die alte Holztreppe ächzte unter seinem Gewicht und die gemusterte Tapete, die ihn bis unten verfolgte, kannte er schon seit seiner Kindheit. Sein Vater hatte kaum Geld in die Wohnung gesteckt – dafür umso mehr in die Firma. Edward öffnete die Türe zum Büro. Aktenschränke gefüllt mit Ordnern und Katalogen säumten eine Seite der Wand und eine dunkle Ledercouch mit zwei passenden Sesseln befand sich vor dem Fenster. Edward ging zum Schreibtisch und schaltete den PC ein – er hasste Papierkram – und setzte sich auf den Drehstuhl, über dem eine abgetragene Strickjacke hing. In der Stille hörte man nur das Ticken der Uhr und das Summen der Kühlfächer, die um diese Jahreszeit Höchstleistung bringen mussten. Edward blätterte seinen Kalender durch und schlagartig zeichnete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ab. Mit einem Knopfdruck schaltete er den PC aus, der noch nicht einmal ganz hochgefahren war, schnappte sich seinen Rucksack und verließ eilig das Bestattungsunternehmen „Adams & Son“ durch den Vordereingang. Der Papierkram musste warten – schließlich bekam er heute noch Besuch.

Als Edward nach draußen trat, schlug ihm sofort warme Luft entgegen. Kurz blickte er in den Himmel und kniff schnell die Augen zusammen, als ihn die Sonne schmerzhaft blendete. Normalerweise mied er die Mittagshitze, doch heute musste er eine Ausnahme machen. Leichtfüßig setzte Edward seinen Weg fort und erreichte nun die Straße. Von hier aus konnte man sein Zuhause nicht sehen, nur ein dezentes schwarzes Schild mit goldenen Lettern wies auf sein Unternehmen hin. Gut gelaunt grüßte er einen Nachbarn und lief die wenigen Meter zur Central Park Avenue. Aus Gewohnheit nahm er gar nicht erst den Wagen, denn damit würde er nur Aufsehen erregen – und er hasste es aufzufallen. 

Edward liebte den Sommer, denn zu dieser Jahreszeit lernte er mehr Frauen als sonst kennen. Obwohl er schüchtern war, ergaben sich doch einige zaghafte Flirts. Da war dieses hübsche Mädchen, das ihm beim Joggen regelmäßig über den Weg lief. Außerdem grüßten ihn die Schwestern des Pflegeheims, in dem seine Mutter untergebracht war, immer sehr freundlich. Zwei junge Frauen – vermutlich Studentinnen – kamen ihm plötzlich entgegen und sahen ihn offensichtlich interessiert an. Schlagartig stieg Edward die Röte ins Gesicht und ihm entging nicht, dass die beiden daraufhin laut kichern mussten. Er beschleunigte seine Schritte und bog schnell um die nächste Straßenecke.

Edward erreichte endlich das Kaufhaus. Sein weißes Shirt klebte an seinem trainierten Oberkörper und er wischte sich mit dem Handrücken die feuchten Strähnen aus der Stirn. Es war halb zwölf und die Hitze hatte New York fest im Griff. Zu dieser Zeit war das Kaufhaus wie ausgestorben, nur vereinzelt sah man Kunden durch die fast leeren Gänge irren, die sich von den Temperaturen nicht abschrecken ließen. Seine Mutter hatte New York im Sommer gehasst. Anstatt ans Meer zu fahren, wie viele ihrer Bekannten, musste sie besonders um diese Jahreszeit ihren Mann im Büro unterstützen. Das war auch schon alles, was sie beruflich mit ihm geteilt hatte. Die anderen Räume im Erdgeschoss hatte sie zu meiden gewusst. Edward hatte als Kind immer geglaubt, dass sein Vater einen einsamen, trübseligen Beruf ausüben würde  – bis er bei ihm seine Ausbildung begonnen hatte –  von da an verbrachte Edward seine Zeit lieber mit seinem Vater, als mit seiner Mutter. 

Nach wenigen Minuten erreichte Edward den 2. Stock. Eigentlich konnte er sich diese zusätzliche Ausgabe diesen Monat nicht mehr leisten, doch das war ihm egal. Zielstrebig steuerte den Bereich für Damenmode an und streifte mit den Fingern vorsichtig über die Stoffe. 

„Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?“ 

Eine junge Verkäuferin strahlte Edward ungeniert an und musterte ihn nicht weniger auffällig von oben bis unten. Unbehaglich zupfte Edward sein Shirt zurecht und wischte sich erneut eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. Normalerweise trug Edward sein dunkles Haar nach hinten gekämmt, aber da er heute Vormittag schnell das Haus verlassen musste, war für Styling keine Zeit geblieben. Die Verkäuferin starrte ihn immer noch an und er musste sich eingestehen, dass sie recht hübsch war. 

„Ähm, ich suche ein Kleid“, erwiderte Edward zaghaft. „Natürlich nicht für mich. Meine Schwester feiert bald ihren Abschluss und wir wollen sie mit einem passenden Kleid überraschen.“ 

Erleichtert entspannte sich die Verkäuferin und hoffte, dass seine Schwester die einzige Frau in seinem Leben war. Noch nie hatte sie solche Augen gesehen. Obwohl sie darin eine tiefe Melancholie wahrnahm, strahlten sie in einem tiefen Blau, das sie gefangen hielt. Sie setzte wieder ihr strahlendes Lächeln auf und berührte Edward am Arm, woraufhin dieser unmerklich zusammenzuckte. 

„In welcher Größe?“, fragte sie zuckersüß. 

Edward zupfte sich nervös am Kragen, da ihm plötzlich warm wurde. 

„Das ist schwierig, aber ich denke, dass ich mit einer 38 nichts falsch machen kann.“ 

Vorsichtig strich Edward über ein blaues Kleid, dessen Farbe in verschiedenen Nuancen schimmerte. Entschlossen lächelte er die junge Verkäuferin an und reichte ihr schließlich das Kleid. 

„Dieses hier nehm’ ich.“ 

Als Edward gegen ein Uhr nach Hause kam, hatte ihn die Hitze endgültig geschafft. Er legte das Kleid im Nebenzimmer ab, ehe er die Treppen zu seiner Wohnung hinaufstieg. Nach einem Blick auf die Uhr entschied er sich für eine schnelle Dusche. Ihm blieben noch drei Stunden bis Emma eintreffen würde und er musste sich beeilen, da er einiges an Papierkram aufzuarbeiten hatte. In letzter Minute hatte er diesen Auftrag von Oscar übernommen, der sich nun nach einem Schwächeanfall schonen musste. Oscar war außerdem der beste Freund seines Vaters gewesen und Edwards Patenonkel. Gerne half er diesem aus, wenn es nötig war. 

Edward ging ins Bad, entkleidete sich und warf seine verschwitzte Kleidung in den Wäschekorb. Wie immer dauerte es eine Weile bis warmes Wasser die alten Rohre passierte und er schwor sich, dieses Jahr endlich das Bad renovieren zu lassen. Hier hatte sich der Geschmack seiner Mutter durchgesetzt. Bordeauxfarbene Fliesen wohin das Auge reichte und ein mintgrünes Waschbecken samt Wanne. Die grässlichen Teppiche und Toilettenbezüge hatte er erst vor kurzem entsorgt, weil er sie nicht mehr sehen konnte.

Edward duschte ausgiebig und zog sich dann eine frische Hose und ein Poloshirt an. Auch die Küche war nicht nach seinem Geschmack. Die alte Eckbank mit Blümchenmuster und die altmodische Küchenzeile erfüllten zwar ihren Zweck, würden jedoch jede Frau vergraulen. Sein Zuhause war einer der Gründe, warum er sich nicht mit Frauen traf und er früher nie Schulfreunde zu Besuch hatte. 

Edward öffnete eine Dose Ravioli, kippte sie in einen kleinen Kochtopf und schaltete den Herd ein. Nach wenigen Minuten war sein Mittagessen fertig und er setzte sich an den Küchentisch, an dem er noch nie Gäste empfangen hatte. Er war es gewohnt alleine zu essen und seit seine Mutter im Pflegeheim wohnte, war er es auch gewohnt alleine zu leben. Wie so oft in letzter Zeit vermisste er seinen Vater, besonders die vertrauten langen Gespräche während der Arbeit. Alfred war ein guter Ehemann und Vater gewesen, aber ein noch besserer Bestatter. Dann hatte ihn vergangenes Jahr erneut der Krebs heimgesucht und nach wenigen Monaten war sein Leben vorbei gewesen. Betrübt stocherte Edward in seinem Essen und nach wenigen Bissen war ihm der Appetit vergangen. An manchen Tagen war seine Einsamkeit einfach unerträglich, er spürte den Schmerz in jeder Faser seines Körpers und wünschte sich, er wäre mit seinem Vater gestorben. Das einzige was ihn am Leben hielt, waren die regelmäßigen Besuche bei Oscar und dessen Frau Marge und sein Job. Da fiel ihm ein, dass es mal wieder an der Zeit war, seiner Mutter einen Besuch abzustatten. Seit sie an Alzheimer erkrankt war, versuchte er jedoch die Abstände immer weiter auszudehnen, denn die Besuche bei ihr taten ihm nicht gut. Edward räumte das Geschirr in die Spülmaschine und ging wieder hinunter ins Büro.

***

Tony nahm einen Bissen von seinem Apfel und verzog skeptisch das Gesicht. Er kaute und kaute, aber die Masse in seinem Mund wollte einfach nicht hinunter. Er sah zu seinem Partner hinüber, der sich aus Solidarität angeschlossen hatte und ebenfalls eher skeptisch einen Apfel aß. Normalerweise gab es in der Mittagspause Fastfood, Coffee-to-go und eine Marlboro zum Nachtisch. Marc und er fuhren zum Park und das Leben war für eine Stunde in Ordnung. Aber er hatte seiner Mutter beim letzten Besuch versprochen sich gesünder zu ernähren. Seit sie sich im „St. John“ eine hübsche Wohnung gekauft hatte –  einem Riesenkomplex aus betreutem Wohnen und Pflegeheim –  befasste sie sich noch mehr mit Gesundheit und Ernährung. Lizzie liebte ihr neues Zuhause, besonders die vielen Kurse und Angebote. Aber noch wichtiger war ihr die Sicherheit, in einer Gemeinschaft zu leben, nachdem es in ihrem Viertel immer wieder zu Einbrüchen gekommen war. Die Entscheidung umzuziehen, war ihr nicht leicht gefallen, aber nach Paolos Tod hatte sie schließlich einen Neuanfang gewagt.

Tony parkte den Wagen unter einer großen Eiche und stieg aus. Die Sonne stand hoch am Himmel und an Tagen wie diesen wünschte er sich, er würde als Bademeister arbeiten und nicht als Cop. Er sah Kinder im Park toben und Mütter mit Kleinkindern auf dem Spielplatz rasten. Gerne hätte auch er Kinder gehabt, aber sein Leben war bisher anders verlaufen. Er schloss die Augen und spürte die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht, ein leichter Windstoß fuhr im durch die dunkelblonden Haare und durch seine geschlossenen Augenlider sah er schwarze Punkte tanzen. Tony strich sich müde übers Gesicht, schüttelte sich kurz und war wieder hellwach. 

Sein Kollege kam gerade mit zwei gekühlten Cokes, die er aus der Kühlbox im Kofferraum genommen hatte und warf eine davon Tony zu. 

„Danke Kumpel, das ist genau das, was ich jetzt brauche. Die letzten Tage waren die Hölle.“ 

Marc lehnte sich an den Wagen und nahm einen großen Schluck. 

„Wem sagst du das. Ich dachte, wir würden wieder so einen ruhigen Sommer erleben wie letztes Jahr, aber man könnte meinen, die Verbrecher und Psychopathen sind alle in der Stadt geblieben!“ 

Tony verschluckte sich beinahe, als er prustend auflachen musste. 

„Besser hättest du es nicht sagen können. Wenigstens einer, der mich versteht! Tracy redet schon seit einer Woche kaum noch mit mir, es geht mal wieder um das Thema ‚Deine Arbeit ist dir wichtiger als ich‘!“ 

Marc verzog mitfühlend den Mund und setzte erneut die Dose an, die er nun in einem Zug austrank. 

„Ja das kenn’ ich. Aber seit meiner Scheidung hat sich dieses Problem geklärt!“ 

Tony schüttelte grinsend den Kopf, zerquetschte mit einer Hand die Dose und warf sie mit einem gezielten Wurf in den nächsten Mülleimer. 

„Nicht schlecht Kumpel, wie wär’s mal wieder mit einem Spiel und einem Burger – sagen wir heute Abend?“, fragte Marc hoffnungsvoll. 

Tony lehnte sich an den Wagen und schloss erneut die Augen. Er wünschte sich, es wäre schon Abend und seine Schicht vorüber, aber er hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, dass er vor neun Uhr daheim sein würde. 

„Heute kann ich nicht. Tracy reißt mir sonst wirklich bald den Kopf ab!“ 

Marc lächelte nachsichtig und beförderte seine leere Dose ebenfalls in den Mülleimer. 

„Hast ja Recht, mach’ nicht den gleichen Fehler wie ich – sonst reißt dir auch noch deine Mom den Kopf ab! Wer weiß, vielleicht absolviert sie auch noch ein Kampftraining – zutrauen könnt ich’s ihr.“ 

Schmunzelnd schwang sich Tony wieder hinters Lenkrad, als im selben Moment eine Durchsage über Funk reinkam. Geistesgegenwärtig sprang Marc ebenfalls in den Wagen, Tony stieg aufs Gaspedal und mit quietschenden Reifen, Blaulicht und Sirene, waren sie auch schon wieder auf dem Weg durch New Yorks Straßen.